Eberhard Blum.org | Trauerrede
Volker Straebel
Trauerrede auf Eberhard Blum
Zur Trauerfeier am 5. April 2013 auf dem Waldfriedhof Heerstraße, Berlin
Es sprachen auch Hanns Zischler, der das Gedicht „Zukunftsmusik“, Eberhard Blum zum 60. Geburtstag, von Felix Philipp Ingold rezitierte, Mathias Niehoff,
der aus der „Coda” von Blums CHOICE & CHANCE las, und Rob Krier, der zu seiner Freundschaft mit Blum sprach; vor dem Gang zur
Grabstelle führten Steffen Schleiermacher und Adam Weisman Clapping Music von Steve Reich auf.
„Da ist zu viel da da.—Da ist nicht genug nichts drin.“ [1] Das war eine der Lieblingsstellen von Eberhard Blum in John Cages 45’ für einen
Sprecher in der Übersetzung von Ernst Jandl. „‚There is too much there there.‘—There is not enough of nothing in it.“ [2] 1990 hat Eberhard Blum den in
der Zeit auskomponierten Vortrag in einer Simultanaufführung mit den übrigen Time-Length Pieces für Klavier (Marianne Schroeder und Nils Vigeland), Perkussion (Robyn Schulkowsky) und Streicher
(Frances-Marie Uitti) in Darmstadt aufgeführt. Es war das Jahr der zweiten Einladung Cages zu den Ferienkursen für Neue Musik nach seinem legendären ersten Auftritt 1958.
Der war noch unbemerkt von Eberhard geblieben, der damals gerade sein Abitur in Stralsund ablegte und sich trotz bestandener Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Rostock erst ein Jahr als
Straßenbahnschaffner in der Produktion bewähren sollte. Die Übersiedlung nach West-Berlin gelang 1960; im gleichen Jahr nahm er sein Studium bei Aurèle Nicolet auf. Zwei Jahre später belegte er
auf dessen Empfehlung bei den Darmstädter Ferienkursen einen Workshop bei Severino Gazzelloni.
Dort lernte er Werke von Luciano Berio, Pierre Boulez und Luigi Nono kennen. Die serielle Musik stand im Zenit und Eberhard Blum beschäftigte sich mit der von ihr geforderten dynamischen und
rhythmischen Differenzierung seines Spiels. In West-Berlin gründete er zusammen mit Erhard Grosskopf, Gerald Humel und Wilhelm Dieter Siebert die Gruppe Neue Musik. Humel hatte bereits 1960 sein
Praeludium und Scherzo Eberhard gewidmet—es sollte am Anfang einer langen, kaum übersehbaren Reihe von Werken stehen, die Eberhard Blum angeregt und in intensiver Zusammenarbeit mit dem
Komponisten zur Uraufführung gebracht hat. [3]
In einer Künstlerbiographie, die mir Eberhard Ende der 1990er Jahre, als wir uns kennenlernten, zukommen ließ—handschriftlich, per Fax; denn Computer und Email sollten nie seine Sache
werden—heißt es lapidar: „Seit den sechziger Jahren Konzerte mit neuer und experimenteller Musik. Seit 1973 regelmäßige Arbeit mit Morton Feldman. Aufführungen von Sprechstücken von Kurt
Schwitters, John Cage und Emmett Williams.“ [4]
Tatsächlich aber scheint Eberhard seit 1962 überall gewesen zu sein, wo es in der konservativen Bundesrepublik Neues im Bereich der Musik zu entdecken gab. 1968 beteiligte er sich an Karlheinz
Stockhausens Kollektiv-Komposition Musik für ein Haus in Darmstadt, und dies wurde ihm 1972 zur Anregung für ein zehntägiges Programm von Aufführungen und Lesungen in der Berliner
Galerie Kleber—ausgerechnet anlässlich des 60. Geburtstages des von Stockhausen wenig geschätzten John Cage. [5] 1971 „entdeckte“ ihn Morton Feldman,
der als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Berlin lebte, und holte Eberhard für 1973–1976 und 1978/79 an das Center of the Creative and Performing Arts an der State University of
New York at Buffalo.
Der Rest ist Geschichte. Das Ensemble Morton Feldman and Soloists, gebildet von Feldman, Blum, dem Komponisten und Pianisten Nils Vigeland und dem Perkussionisten Jan Williams bildete den Fokus
für Feldmans Spätwerk und konzertierte weltweit, auch nach dem Tod des Komponisten 1987. Zu Feldmans Werken, die mit Eberhard als Uraufführungs-instrumentalisten entstanden, gehören:
Instruments III (1977, uraufgeführt in der in der Whitechapel Art Gallery, London); Why Patterns? (1978, uraufgeführt beim Meta-Musik Festival in Berlin); Crippled
Symmetry (1983, uraufgeführt in der Akademie der Künste, Berlin); For Philip Guston (1984, uraufgeführt in Buffalo, New York); For Christian Wolff (1986, uraufgeführt
bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt).
Seit 1975 brachte Eberhard Kurt Schwitters Ursonate über einhundertmal zur Aufführung, wenn auch nicht zu Uraufführung, wie in einem Nachruf einer Berliner Lokalzeitung fälschlich zu
lesen war. [6] Über seine Tätigkeit als Musiker und Stimm-Performer hinaus war Eberhard ein Meister in der Konzeption klug durchdachter
Konzertprogramme—Positionen der Moderne (1988), Stationen der musikalischen Moderne (1989), Stefan Wolpe und die musikalische Avantgarde (1990), Mit anderen Ohren (1991), Die Kunst der Serie
(1993)[7] zuletzt 2012 zusammen mit Erhard Grosskopf die Reihe Von der Disziplin der Anarchie in der Akademie der Künste, die endlich den lang gehegten
Plan, John Cage als Komponisten traditionell notierter Musik zu präsentieren, einlöste.
Zu seiner Arbeit als Musiker sagte Eberhard einmal: „Ich versuche immer […], mich nicht als Interpret zu sehen. Ich verstehe mich als Ausführenden. Das betrifft alle Partituren, von ganz
herkömmlich notierten bis zu konzeptionellen Stücken […]. Ich versuche nur, die Idee des Komponisten in die Tat umzusetzen.“ Und auf meinen Einwand, ob es nicht eine von den Fallstricken der
Hermeneutik verwehrte Illusion sei, die Komponistenintention rekonstruieren zu können, erwiderte Eberhard mit der ihm eigenen Mischung aus Bestimmtheit und triumphalen Trotz: „Das ist Illusion,
und dieser Utopie, Kompositionen nahe zu kommen, widme ich mein ganzes Leben.“ [8]
Das hat er getan. Eberhard Blum wurde zur künstlerischen Instanz in Sachen Cage, Feldman, Brown und Wolff, Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann, Haubenstock-Ramati, Takemitsu, Hosokawa, Grosskopf
und Fritsch. Die zahlreichen Einspielungen sind Referenzaufnahmen seines Repertoires. [9] Als neulich auf einer Konferenz in Boston eine Flötistin, die
zur Offenen Form referierte, auf eine Frage zu Haubenstock-Ramati keine Antwort wusste, sagte sie mit größter Selbstverständlichkeit: „I don’t know. Eberhard Blum would know.“
Er hätte es gewusst. Hätte er es nicht gewusst, Eberhard hätte das fragliche Werk nicht zur Aufführung gebracht. Er hat immer die Redlichkeit des ausführenden Künstlers über den Effekt des
performativen Musikers gestellt. „Whenever people do their worst thing, they connect it with my name.“ Die resignative Äußerung Cages führte Eberhard gern an, wenn er sich für die präzis
einstudierte und in ihrer Darbietung detailliert geplante Aufführung einsetzte. Programmgestaltung, Bühnenaufbau, Licht, Drucksachen (oft in der kongenialen Gestaltung seiner Partnerin Ann
Holyoke Lehmann)—Eberhard verstand das Konzert als ästhetisches Ereignis, ohne die Inszenierung Selbstzweck werden zu lassen. Als Veranstalter war es ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten, obwohl
seine hohen Ansprüche nicht immer leicht zu befriedigen waren. Mir erschien Eberhard so mitunter als das Gewissen der Neuen Musik. Diese Rolle hat ihm nicht nur Freunde gemacht. Das aber war es
wert. Es sind mit Sicherheit viele unter uns, die auf vielen Ebenen von ihm gelernt haben, und die ihm unvergessliche Konzerterlebnisse verdanken.
Mit der gleichen Intensität und Konsequenz, mit der Eberhard Blum sich der Musik widmete, betrieb er seit den 1980er Jahren seine bildnerische Arbeit. [10] Ausgehend von Morton Feldmans Begriff der abstract experience bewegte sich Eberhard im Spannungsfeld von intellektueller Konzeption und manueller
Realisation. Und Eberhard erzählte gern, wie Feldman in seinem Atelier lange vor den großformatigen Zeichnungen gestanden habe und schließlich nur einen Satz sagte: „Eberhard, you found
something.“ Wie wir in komponierter Musik geneigt sind, einen ästhetischen Gegenstand jenseits der individuellen Aufführung anzunehmen, so scheinen Eberhards Zeichnungen trotz ihrer
abstrakten—oder wenn man will: konkreten—Form auf eine ästhetische Wirklichkeit jenseits ihrer materialen Gegenwart zu zielen. Besonders deutlich wird das in den konzeptionellen Arbeiten wie den
59 Wandlungen (2003), bei denen nach seriellen Prinzipien die Farbauswahl vertikaler Linien bestimmt wird. [11] Hier lernt Konzeptkunst vom
Denken der Neuen Musik. Für Eberhard gab es keine Kunst ohne Musik.
Andererseits war für Eberhard die Musik nicht an die Kategorie der fortschreitenden und zählbaren Zeit gebunden. Den überzeitlichen musikalischen Werkbegriff, der den musikalischen Text und
damit auch die musikalische Graphik nobilitiert, verfocht Eberhard mit großer Entschiedenheit. Wo andere Vertreter der Avantgarde von „Stücken“, „Arbeiten“ oder „Kompositionen“ reden, sprach
Eberhard stets von Werken.
Es will mir in diesem Moment trostreich erscheinen, dass Eberhard, wie Feldman es in seinem Schlüsseltext Between Categories gefordert hatte, [12] den
Zeitkern der Musik nicht auf ihren Vollzug reduzierte. In einer Fantasie-Notation eines Albumblatts hat Eberhard bei der Taktbezeichnung Nenner und Zähler vertauscht und eine Achtelnote über ein
Unendlich-Zeichen gesetzt. [13] Wie verläuft hier die Zeit? Die raschen, flötenhaften Sprünge und die Sprachklänge bleiben stumm und sind dennoch
präsent.
Im Vorwort zu Silence antwortet John Cage auf die Frage, warum er keine konventionellen Vorträge hielte, sondern zeitlich und/oder strukturell komponierte Texte vortrage: „Ich halte
diese Vorträge nicht, um die Leute zu überraschen, sondern aus poetischer Notwendigkeit.“—„[O]ut of a need for poetry.“ [14] Vielleicht ist es diese
Haltung, die Eberhard mit Cage teilte, die mich, seit ich ihn mit Anfang Zwanzig zum ersten Mal auf der Bühne sah, stark beeindruckt hat: der Glaube an die poetische Notwendigkeit, die im
abstrakten Material liegt, nicht in einer Bedeutung oder Wirkung. Das Material entdeckt uns seine Qualität, der wir uns existentiell aussetzen. So ist es kein Zufall, dass Cage im Vortrag
über Etwas nicht nur über Struktur, Zeit und Stille, sondern auch über Tod und Leben spricht, von denen es kein Entkommen gibt, eben so wenig wie vor dem Zanken der Nachbarn und dem
Quietschen der Pedale des Klaviers:
„… So dass | man beim Anhören dieser | Musik … als | Sprungbrett … den | ersten Klang nimmt … | der vorkommt … | ; … das erste | Etwas schnellt uns … | ins Nichts und … | aus diesem Nichts … |
steigt … das | nächste Etwas … | usw. … | Kein einziger Klang … | fürchtet die Stille[,] … | die ihn auslöscht. … Und | es gibt keine Stille … | die nicht mit Klang … | … ge | laden ist. … |“
[15]
[1] John Cage: „45’ für einen Sprecher“ [45’ for a Speaker, 1954], übers. v. Ernst Jandl, in: Silence. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1987, S. 63–157, hier: 5’40”.
[2] John Cage: „45’ for a Speaker“ [1954], in: Cage, Silence. Lectures and Writings. Middletown, Connecticut:
Wesleyan University Press 1961, S. 146–192, hier: 5’40”.
[3] Vgl. Eberhard Blum: Choice & Chance. Bilder und Berichte aus meinem Leben als Musiker. Berlin: Berlinische Galerie 2008.
[4] Eberhard Blum, 12.02.1998.
[5] Vgl. Eberhard Blum: Choice & Chance, a.a.O., S. 54–58.
[6] Vgl. Jens Hinrichsen: „Streiter für das Unerhörte. Flötist und Künstler: Eberhard Blum ist tot“, Tagesspiegel,
10.03.2013.
[7] Vgl. Eberhard Blum: Choice & Chance, a.a.O., S. 196–219.
[8] Eberhard Blum und Volker Straebel: „Zur Interpretation Neuer Musik. Zwei Gespräche über ausgewählte Werke (I)“, in:
Positionen, Nr. 31 (Mai 1997), S. 40–45, hier S. 40.
[9] Vgl. die kommentierte Auswahldiskographie Eberhard Blum: Recordings on CD, 1990–1997. Berlin: Selbstverlag 1997. Eine Auswahl der für Eberhard Blum komponierten Solo-Werke liegt vor in
Eberhard Blum: Anthology 1968–1998. Berlin: Selbstverlag 2000, 2
CDs.
[10] Vgl. Eberhard Blum: Visual Work, 1980–98. Berlin: Selbstverlag 1998 und Eberhard Blum: Visual Work,
1992–2005, hrsg. v. Günter Braun und Waldtraut Braun. Berlin: Selbstverlag 2006.
[11] Die Partitur für diese Serie ist reproduziert in Eberhard Blum: Choice & Chance, a.a.O., S. 190.
[12] Vgl. Morton Feldman: „Between Categories“ [1969], in: Give my Regards to Eighth Street. Collected Writings,
hrsg. v. B. H. Friedman. Cambridge: Exact Change 2000, S. 83–89, deutsch auch in Morton Feldman: Essays, hrsg. v. Walter Zimmermann. Köln: Beginner Press 1985.
[13] Eberhard Blum: Fragment für V.S., Manuskript, datiert 4.1.2010.
[14] John Cage: Silence. Lectures and Writings. Middletown, Connecticut: Wesleyan University Press 1961, S. x;
John Cage: Silence, übers. v. Ernst Jandl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 159.
[15] John Cage: „Vortrag über Etwas” [Lecture on something, 1949], übers. v. Ernst Jandl, in: Silence. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1987, S. 6–62, hier S. 48. Vorgetragen mit 5” von | zu |. Beim letzten | habe ich deutlich hörbar die mechanische Stoppuhr angehalten.